Körperarbeit und Berührung

Bei frühen Traumata bzw. Bindungstraumata ist die Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu regulieren, herabgesetzt. Außerdem ist das soziale Bindungssystem in Mitleidenschaft gezogen. Das heißt, ein Kind sucht nicht die Nähe zu seinen Bezugspersonen, wenn es in Not ist, weil diese Personen oft die Ursache des Leides waren. Weil diese Bezugspersonen dem Kind nicht helfen, seine Gefühle zu regulieren, sind die betroffenen traumatisierten Anteile des Kindes und später des Erwachsenen häufig übererregt. Darum arbeite ich in der therapeutischen Arbeit mit der Klientin / dem Klienten an der Regulierung der Gefühle.

  • Die einfachste Möglichkeit ist, tief und langsam atmen zu lernen. Dies bremst über den Parasympathikus die Übererregung.
  • Des weiteren fördere ich die achtsame Wahrnehmung von Körperempfindungen und Gefühlen im sicheren Hier und Jetzt. So kann die Regulationsfähigkeit gestärkt werden.
  • In Absprache mit der Klientin / dem Klienten kann Selbstberührung oder Berührung durch den Therapeuten sehr hilfreich sein. Die Berührung kann auf tiefer Ebene Sicherheit vermitteln, die zum Zeitpunkt des Traumas gefehlt hatte.
  • Das gleiche gilt - mit entsprechender Vorbereitung der beschützenden Anteile - für den Augenkontakt, der eine positive Erfahrung von emotionaler Nähe ermöglicht.

Hier wird der beruhigende Einfluss des ventralen Teis des Vagusnervs genutzt, der das soziale Bindungssystem aktiviert. Siehe Polyvagaltheorie.

Vertiefung

Martin Grunwald beschreibt in seinem Buch (s.u.) sehr schön die Haut als elementar wichtiges Sinnesorgan. Eine wichtige Rolle bei der Bindungsentstehung nach der Geburt (Bonding), im Babyalter bis ins Erwachsenenalter spielen die sog. C-taktilen Fasern. Sie reagieren bei langsamem Streicheln und vermitteln Geborgenheit und Sicherheit.

Die biologische Basis dafür hat mit einem wichtigen Hormon zu tun (s.u. Buch von Kerstin Moberg): “Nähe, Körperkontakt und Beziehung stimulieren die Ausschüttung von Oxytocin. Dieses “Hormon der Nähe” bewirkt Ruhe und Entspannung, baut Angst ab, verbessert unsere Wahrnehmung für Beziehungssignale, erhöht unser Vertrauen in andere Menschen und führt insgesamt dazu, dass wir leistungsfähiger und gesünder sind…
Die Herausgeber … eröffnen … zukunftsweisende Perspektiven: für das Verstehen von Beziehungsproblemen, das Verstehen der Auswirkungen von Körperkontaktstörungen und die enormen Chancen, die eine Nutzung von Nähe und Körperkontakt im Rahmen der Therapie unterschiedlichster Störungsbilder - vom Säugling bis zum alten Menschen - bietet.” (Hervorhebung von mir)

Die traumatisierten Anteile haben in der Regel “Einreden” / negative Glaubenssätze entwickelt. Beispielsweise: “Nähe ist gefährlich”.

Durch die oben beschriebene Arbeit wird der Weg bereitet für die Entlastung von den erwähnten “Einreden”. Am Ende wächst - auch durch die erfreuliche Erfahrungen - die Überzeugung, dass emotionale Nähe nicht nur ungefährlich, sondern bereichernd und wunderschön sein kann.
Für manche Klient/innen kann dies auch eine spirituelle Erfahrung sein.

Zu diesem Thema siehe auch van der Kolk, Bessel, Verkörperter Schrecken - Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann, 247-259

Des weiteren gibt es Evidenz, dass Berührung das Immunsystem stärkt bzw. fehlende Berührung es schwächt! (Hauch & Hauch, 2018, 176-79)

Werner Bartens, Wie Berührung hilft. Warum Frauen Wärmflaschen lieben und Männer mehr Tee trinken sollten - sehr populär und unterhaltsam geschriebenes Buch. Die meist kurzen Kapitel fassen Studien zum Thema “Berührung” zusammen. Der Untertitel könnte auch lauten: “Warum wir uns mehr berühren sollten.”

Rebecca Böhme, Human Touch. Warum körperliche Nähe so wichtig ist. Erkenntnisse aus Medizin und Hirnforschung - sehr allgemeinverständlich geschrieben trotz wissenschaftlichen Hintergrundes. Viele Literaturhinweise.

Martin Grunwald, Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können

Kerstin Uvnäs Moberg, Oxytocin, das Hormon der Nähe: Gesundheit – Wohlbefinden - Beziehung / - Sie beschreibt, wie dieses Hormon u.a. durch Berührung gebildet wird und welche vielfältigen positiven Auswirkungen es im Körper, in der Mutter-Kind-Bindung, in Partnerschaften und anderen Beziehungen hat. Es bewirkt Ruhe und Entspannung, baut Angst ab, verbessert unsere Wahrnehmung für Beziehungssignale, erhöht unser Vertrauen in andere Menschen und führt insgesamt dazu, dass wir leistungsfähiger und gesünder sind.

Podcasts:
“Liebe und körperliche Nähe”: ORF Focus 2024 0629 Dr. Rebecca Böhme, Neurowissenschaftlerin und Assistenzprofessorin am Zentrum für soziale und affektive Neurowissenschaften in Linköping, Schweden
MDR Wissen: Der Streichel-Sinn: Es gibt ihn wirklich! vom 21. Januar 2020 “Das Glück der Berührung”: ORF Focus 2019 09 14 Professor Cem Ekmekcioglu Sendungsseite

Podcast #31 Inspiriert im Gespräch mit Dr. Woltemade Hartman — Verena König Podcast für Kreative Transformation - Die Bedeutung von Berührung in der Psychotherapie, ab Minute 32