(Trauma-) Geschichte der Kindheit

Triggerwarnung!

Bei Personen mit sensiblen Anteilen / PTBS kann diese Seite möglicherweise Flashbacks oder andere Reaktionen auslösen! Der Inhalt ist schwer erträglich, aber weitgehend unbekannt. Aber ich finde, wir schulden es den zahllosen Opfern, ihr Schicksal nicht länger zu vergessen und zu verdrängen.

Quelle

Der folgende Inhalt ist zusammengefasst aus Lloyd DeMause, Das emotionale Leben der Nationen. Das Buch enthält ein bewegendes und erschreckendes Kapitel über die Geschichte (Evolution) der Kindererziehung, S. 211-269. Zahlen in Klammern verweisen auf die Seiten dort. Bei DeMause finden sich in den zahlreichen Anmerkungen auch die historischen Quellenangaben.

Unglaube, Verdrängung und Verleugnung

DeMause urteilt:

Je weiter man in die Geschichte zurückgeht, umso niedriger das Niveau der Kinderfürsorge, und umso wahrscheinlicher, dass Kinder umgebracht, verstoßen, geschlagen, terrorisiert und sexuell missbraucht werden. (74)

und:

Es überrascht nicht, dass die Existenz von weit verbreitetem Kindesmissbrauch und Vernachlässigung über die ganze Geschichte hinweg ungläubig betrachtet wird. (211)

Historiker haben diesen Aspekt der Geschichte weitgehend übersehen und verdrängt. Auch Anthropologen beteiligen sich daran, indem sie z.B. Inzest und Infantizid (Kindstötungen) verharmlosen (192ff).

Vernebelung - Bäume im Nebel

Transgenerationale Weitergabe von Trauma

Schon der Fötus ist Stressfaktoren ausgesetzt (56ff). Die vor- und nachgeburtlichen Traumata werden im Leben des Einzelnen (aus Opfern werden oft Täter) und im Leben der Nationen (Krieg) wieder aufgeführt bzw. wiederholt. Aber es gibt auch Hoffnung:

Wenn auch nur eine Minorität von Eltern die Menge an Missbrauch und Verrat an ihren Kindern etwas verringerten und sie nur ein bisschen versuchten, die frühen Jahre etwas sicherer und liebevoller zu gestalten, um etwas mehr Freiheit und Unabhängigkeit zuzulassen, würde die Geschichte bald in überraschend neue, innovative Richtungen gehen und soziale Veränderungen bewirken. Die Geschichte muss sich nicht wiederholen; nur die Traumata verlangen nach Wiederholung. (75)

Gynarchie - der fehlende Vater (212-216)

In Griechenland, Ägypten, Byzanz, Indonesien, China und anderen alten Kulturen waren es nicht die Männer, die herrschten. Vielmehr beherrschten bis zum Mittelalter Frauen die Kinder und die Männer. Väter waren an der Kindererziehung nicht beteiligt. Über die chinesische Gynarchie heißt es, sie werde von Frauen beherrscht, die

den Ruf hatten, die Männer ihres Haushaltes und ihre Nachbarn mit ihrem wilden Temperament, ihren scharfen Zungen und ihrem unbeugsamen Willen zu terrorisieren. (214)

Mädchen waren oft schlimmer dran als Jungen. Japanische Wiegenlieder lauteten:

Wenn es ein Mädchen ist, trample sie nieder (216).

Väter fühlten sich gedemütigt, wenn ein Mädchen geboren wurde. Mädchen wurden öfter als Jungen vernachlässigt, misshandelt, vergewaltigt und ausgesetzt (217).

Kindsopfer

In Karthago wurde ein Friedhof mit den Urnen von 20000 Kindern gefunden. Sie waren von den Eltern den Göttern zum Dank geopfert worden. Zuvor hatten die Eltern einen Schwur abgelegt, dieses Opfer zu bringen, falls die Götter ihnen eine bestimmte Gunst erwiesen. In vielen Religionen waren Kindsopfer an der Tagesordnung (219f).

Infantizid (Kindsmord)

Nancy Chordorow spricht von der Gefahr einer “hypersymbiotischen Beziehung”. Da erwarten Mütter von ihren Kindern, dass sie ihre Depression heilen, und ihnen die Liebe schenken, die ihnen gefehlt hatte (217). Geschah dies nicht, so konnte sich die Liebe in Hass wandeln. Außerdem mussten Mütter die Eifersucht der Grußmutter fürchten, die ihre Tochter nicht mit einem Kind teilen wollten.
Entgegen weit verbreiteter Ansicht war es nicht die Armut, die Eltern zum Infantizid bewog.
Sogar mittelalterliche Bußbücher unterstützten die Ansicht, ein Neugeborenes sei nicht menschlich, solange es noch keine Nahrung zu sich genommen hatte.
Um die Schuld des Infantizids an Neugeborenen zu teilen, wurden manchmal ältere Geschwister gezwungen, daran mitzuwirken (224).

Verstümmelung von Kindern

Steinzeitliche Höhlenmalereien und Knochenfunde zeigen, dass man glaubte, Geister würden die Finger von Kindern verlangen, um besänftigt zu werden (225).
Genitale Verstümmelung von Mädchen wurde und wird heute noch in vielen Ländern praktiziert. Jungen wurden kastriert, um in Tempeln, Bordellen oder aristokratischen Haushalten vergewaltigt zu werden (227).
In England war es bis ins 16. Jahrundert üblich, den Kopf von Säuglingen in eine verstellbare Form zu pressen, manche starben daran.
Beliebt und durch mancherlei Aberglauben unterstützt war es auch, Körperteile von Kindern zu verbrennen (229).

Unterernährung durch Mangel an Empathie

Selbst Könige (wie Ludwig XIII) und Prinzessinnen waren bis ins 18. Jahrhundert manchmal dem Tode nahe, obwohl sie von zahlreichem Personal, dem sie anvertraut waren, versorgt wurden. Schreiende Babies bekamen oft Mohn verabreicht, so dass sie entweder still waren oder manchmal auch starben (230). Oder sie wurden verschnürt, auf ein Brett gebunden und an einen Nagel gehängt. Da sie dann kaum noch Luft zum Atmen bekamen, schrien sie nicht mehr, selbst wenn sie Hunger hatten.
Selbst Ammen stillten die Kinder häufig nicht, sondern gaben ihnen beispielsweise eine schwer verdauliche Mischung aus saurer Milch und Mehl. Kuhmilch ließ 70 % der damit gefütterten Kinder sterben (232).

Ammen im Dienst der Gleichgültigkeit

Nicht nur die Adligen, auch und vor allem die Mittelschicht gab ihre Kinder in die Hände von Ammen. Über ein Drittel der Kinder starb dort, doppelt so viele wie die gestillten. Man glaubte, die Babies würden das Lebensblut der Mütter aussaugen (232). Allein die Reise zu einer Amme konnte eine Gefahr sein:

In Gruppen zu viert oder zu fünft wurden die Säuglinge in Tragkörben aufrecht gebündelt auf Esel verladen. Die während der Reise verstarben, wurden einfach en route hinausgeworfen. (234)

Die Dienste der Ammen wurden gern in Anspruch genommen, gleichzeitig hieß es, sie seien schuldig

der groben Fahrlässigkeit … Babys … unbeaufsichtigt zu lassen, wenn sie bei der Ernte halfen … die ins Feuer krabbeln oder fallen und von Tieren attackiert wurden, speziell von Schweinen. (234)

Bis ins 19. Jahrhundert herrschte in Europa eine Sterblichkeitsrate bei den Ammen von zwei Dritteln (235). Ärzte klagten:

Wenn Frauen (Ammen) sich um den Weingarten kümmerten, blieb der Säugling alleine … an ein Brett gebunden und an einem Haken an der Wand aufgehängt schreiend und hungrig in verfaulten Windeln. Oftmals schreit das Kind so stark, dass es einen Eingeweidebruch erleidet. (235)

Die Situation der Babies verbesserte sich meist, wenn die Ammen im Elternhaus lebten. Aufgeschlossene Mütter begannen, ihre Kinder selbst zu stillen.

Das Einwickeln der Kinder

Säuglinge wurden oft so gewickelt, dass sie ihre Arme und Beine nicht mehr bewegen konnten. Man ließ sie über Tage in ihren eigenen Exkrementen. Das Wickeln wurde teilweise bis ins dritte Lebensjahr vollzogen, um aggressive Neigungen des Kindes zu unterdrücken. Kein Wunder, dass viele dieser Kinder oft körperlich und seelisch schwer behindert waren. (236-39) In Afghanistan, wo bis heute Gewalt gegen Kinder häufig ist, werden Babies bis heute eingewickelt.

Das Schlagen von Kindern

Männer hatten bis ins 20. Jahrhundert hinein in vielen Ländern das Recht, ihre (auch schwangeren) Frauen zu schlagen. Kleinkinder sollten durch Schläge lernen, ruhig zu sein, beziehungsweise, zu gehorchen. Eine Mutter sagt über ihren vier Monate alten Säugling:

Ich peitschte ihn jedenfalls, bis er schwarz und blau war, und bis ich ihn nicht mehr weiter peitschen konnte, und er hatte nicht einen Millimeter nachgegeben. (240)

Die körperliche war oft mit psychischer Gewalt verbunden. Kinder mussten darum bitten, geschlagen zu werden, sich hinterher für die Schläge bedanken oder das Prügelgerät küssen (241).

Nicht nur Eltern reicher Kinder heuerten professionelle Auspeitscher an. Louis XIII sagte bei seiner Krönung im Alter von 8 Jahren, er

würde gerne auf soviel Huldigung und Ehrerbietung verzichten, wenn sie mich dafür nicht auspeitschen ließen. (242)

Auch in den Schulen herrschte die Meinung, dass Kinder unbedingt geschlagen werden müssten. Nicht selten so sehr, bis das Blut floss (243-245).

Weitere Misshandlungen

Auch wenn Kinder noch so sehr schrien, wurden sie in eisigem Wasser gebadet, um sie “abzuhärten” (245). Korsette, Halsbänder, schmerzhafte Einläufe, Einsperren in Schränke, Drohen mit dem Schwarzen Mann (Lamia), der schlimme Kinder holt, waren weiter übliche “Erziehungs”-methoden (246).

Das Verlassen und Weggeben von Kindern

In den Findlingsheimen fanden sich - überraschenderweise - überwiegend ehelich geborene Kinder wieder. Die meisten überlebten nicht. Jemand schlug vor, über der Tür eines solchen Heims die Inschrift anzubringen:

Hier werden Kinder mit öffentlichen Mitteln umgebracht.

Bis in moderne Zeiten gab es Sklavenmärkte, wo Eltern ihre Kinder (in die Schuldleibeigenschaft)verkaufen konnten. Wenn sie die Kinder in Klöster abgaben, wurden sie dort oft ebenfalls wie Sklaven misshandelt und sexuell missbraucht (247).

Später wurden Kinder zur Pflege, Adoption, Lehre oder Dienerschaft weggegeben, was meist wenig Unterschied machte. Ziel war

die Kinder dem Anblick des Vaters und der Mutter zu entziehen und sie Freunden zu geben, damit sie nicht streitsüchtig werden; und auch sind sie, wenn sie in einem fremden Haus sind, ängstlicher und wagen es nicht, fröhlich zu sein, und haben Angst vor Schelte. (247f)

Frauen schlugen ihre Lehrmädchen, bis diese verstummten, Lehrmeister vergewaltigten nachts ihre Jungen- und Mädchendiener (249).

Mütterlicher Inzest

Dies ist ein Tabu-thema, von Müttern und Kindern gleichermaßen geleugnet und verdrängt. Dennoch streicheln viele Mütter die Genitalien ihrer Babies, Jungen und Mädchen. In Japan war (und ist?) es Sitte, dass Mütter ihren Söhnen beibringen, wie man masturbiert. Viele Männer leiden daher unter einem “Keine-Berührungs-syndrom” (bzw. “Ich-liebe-Mami-Komplex”) (253).
Im 19. Jahrhundert steckten laut ärztlicher Berichte viele Väter ihre Kinder mit sexuell übertragbaren Krankheiten an Zwei Studien mit ausführlichen Interviews in den USA ergaben, dass 38 % bzw. 45 % der Frauen sexuelle Übergriffe in der Kindheit erinnerten.
(254).

Dunkle Wolken

Die Vergewaltigung von Mädchen

Ein britischer Journalist meinte 1924 zu diesem Thema:

“Männer sollten für so etwas nicht bestraft werden. Es tut dem Kind nichts.”

Der US-arzt Socarides (1922-2005) berichtet von einem Pädophilen, dass dieser glaubte, Sex mit Kindern verjünge und bewahre vor dem Tod (258). In der Antike und in arabischen Ländern wurden vergewaltigte Mädchen (nicht die Täter!) von ihren Vätern zum Verkauf angeboten oder sogar mit dem Tod bestraft.

Oft herrschte die Auffassung, 2- bis 3-jährige Mädchen würden sich nicht erinnern, oder seien nachher umso leichter zu verführen. Inzest war an der Tagesordnung (259). Bis ins 18. Jahrhundert betrachteten Männer Vergewaltigung als harmlose Angelegenheit. Im Altfranzösischen gab es kein Wort für “Vergewaltigung”. Mütter waren häufig die stillen Mitwisserinnen oder wirkten gar mit (260f). Auch heute noch geht die Zahl sexueller Sklav/innen in die Millionen.
Bis ins 18. Jahrhundert wurde die Vergewaltigung von Mädchen z.B. in der Dienerschaft selten bestraft, sie war geradezu üblich, als eine Art Autoritätsausübung (261).
Sexuelle Dienste von Töchtern wurden Gästen als Zeichen von Gastfreundschaft angeboten, oder als Unterstützung des Familieneinkommens an Freier verkauft. Auch der Klerus, Mönche und Nonnen bis hin zu den Päpsten, betätigte sich gerne sexuell, auch an Kindern. (262). Jugendbanden drangen teilweise sogar in Häuser ein und betrachteten Vergewaltigung als Initiation.
Eheschließungen von jungen Mädchen mit älteren Männern waren (und sind oft bis heute) der Beginn einer sexuellen Leidensgeschichte für die Betroffenen (263).

Sexuelle Gewalt gegen Jungen

In Florenz beispielsweise benutzten im 15. Jahrhundert die Mehrheit der Männer Jungen sexuell. Sie wussten, dass nur besonders krasse Fälle von Vergewaltigung von Jungen - widerwillig - vor Gerichten verhandelt wurden. In den staatlichen britischen Schulen war sexuelle Gewalt gegen Jungen, von Lehrern, aber auch von älteren Mitschülern, bis ins 20. Jahrhundert gängige Praxis (263).

Die Bedeutung des Kinderschutzes für das Überleben der Menschheit

Der Arzt Robert Mc Farland hat in Boulder, Colorado, für mehr Kinderschutz und bessere Elternschaft gesorgt. Die Organisation, The Parenting Place, kostete weitaus weniger als die Kosten für Sozialdienste und durch kriminelles Verhalten, die ohne sie entstanden wären. Die Investitionen in Kinderschutz und Unterstützung von Eltern wären für die Menschheit weitaus sinnvoller als die Milliardenausgaben für Militär und Waffen (306).

Unsere Aufgabe ist klar, und unsere Mittel reichen aus, um die Welt zum ersten Mal in unserer gewaltvollen Geschichte sicherer zu gestalten. Alles, was wir jetzt brauchen, ist der Wille, anzufangen. (307)

Regenbogen