Bindungstrauma

Tiefe Spuren durch Wiederholung: “Mikro”-traumata / kumulative Traumata

Im Gegensatz zu Einzel-Ereignissen, die zu einer psychischen Überlastung führen, gibt es auch Ereignisse wie z.B. Beschimpfungen, Ablehnung, negative Prophezeihungen, die nicht im Einzelnen traumatisch erlebt werden, die aber in der Summe und durch Wiederholung ein Trauma hervorrufen. Ich habe die Anführungszeichen gesetzt, weil auch die “Mikrotraumata” stark bindungstraumatisierend wirken.

Bindungstypen

Die frühe Mutter-Kind-Beziehung kann zu einer sicheren, einer unsicher-vermeidenden, unsicher-ambivalenten oder desorientiert / dissoziativen Bindung beim Kind führen. Besonders im letzten Fall kann man von einem Bindungstrauma sprechen. Die Ursache kann beispielsweise Vernachlässigung und emotionale / körperliche / sexuelle Gewalt sein.

Bindungsstile

Die im Baby- und Kleinkindalter erworbenen Bindungstypen setzen sich im Erwachsenenalter häufig als Bindungsstil fort. Sowohl Männer als auch Frauen können ambivalente, vermeidende oder desorganisierte Bindungsstile aufgrund ihrer Bindungstraumata entwickeln. Bindungsangst oder Abhängigkeit (klammerndes Verhalten) können die Folge sein. Dann gelingt es ihnen nicht, stabile, befriedigende und gleichwertige Beziehungen zu entwickeln. Hier kann Traumatherapie helfen.

Sichere Bindung

Die Bindungsforschung hat “Feinfühligkeit” als den entscheidenden Faktor identifiziert, damit das Kind eine sichere Bindung entwickeln kann. Dazu gehörenn folgende vier Elemente:

- dass die Bezugsperson die kindlichen Signale aufmerksam wahrnimmt

- sie richtig interpretiert

- angemessen und

- prompt reagiert

Mutter und Affenbaby von Lewis Roberts auf UNSPLASH - lizenzfrei

Mit anderen Worten: Feinfühligkeit ist wichtig im Reagieren und Verhalten im live Kontakt, in der Berührung, und im Zuhören. Dazu gehört, sich auf Geschwindigkeit und Rhythmus des Kindes einzustellen, z.B. zwischen wünscht es sich Ruhe oder Anregung?

Es ist erwiesen, dass häufig wechselnde Bezugspersonen, wie etwa in Kinderheimen, keine gute und sichere Bindung ermöglichen.

Bindungstrauma / Entwicklungstrauma

Ein US-Psychiater, Brian Weiss, schreibt - ohne dieses Wort zu verwenden - dazu (2005, S. 41):

“Was ich noch nicht ganz begriffen hatte, war, dass die ständige, tagtägliche Einwirkung vor negativen Einflüssen, wie zum Beispiel die beißende Kritik eines Elternteils, viel mehr psychischen Schaden anrichten kann, als durch einen einzigen traumatischen Anlass verursacht wird. Weil sie sich im alltäglichen Hintergrund unseres Lebens verlieren, ist es sogar noch viel schwieriger, sich an diese schädlichen Einflüssen zu erinnern und sie auszuteilen. Ein ständig kritisiertes Kind kann genauso viel Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl einbüßen wie eines, das sich daran erinnert, an einem spezifischen, schrecklichen Tag gedemütigt worden zu sein. Ein Kind, dessen Familie wenig Geld hat und täglich an der Nahrung sparen muss, wird mit der Zeit vielleicht unter denselben technischen Problemen leiden wie eines, das ein zufälliges Erlebnis hatte, wo es beinahe verhungerte.
Bald würde ich erkennen müssen, dass die tagtäglichen Schläge negativer Kräfte mit derselben Aufmerksamkeit erkannt und aufgelöst werden müssen, wie sie einzelnen traumatischen Ereignissen eingeräumt wird.” (Hervorhebung von mir)

Diese wiederholten, kumulativen “Mikrotraumata” untergraben bzw. verhindern eine sichere Bindung zwischen Kind und der Bezugsperson und bewirken ein Bindungstrauma.

Ein Bindungstrauma / Entwicklungstrauma kann auch schon in der Schwangerschaft entstehen, z.B. wenn die Schwangerschaft ungeplant / unerwünscht ist! Siehe hier.

Folgen von Bindungstrauma / Entwicklungstrauma können sein (vgl. Heller 199ff):

  • Selbstwertprobleme, Scham, Selbsthass
  • Hypervigilanz - ständige Wachsamkeit und Anspannung / namenlose Furcht
  • Das Problem wird scheinbar identifiziert, z.B. als Phobie oder Übergewicht, das tiefere Problem bleibt dadurch unerkannt
  • Überzeugung, dass das Leben sinnlos ist
  • Innere Abspaltung von Gefühlen wie z.B. Wut und Schmerz und vom Körper (Dissoziation)
  • Schwierigkeit, sich Hilfe zu suchen und sie anzunehmen
  • innerer oder äußerer Rückzug
  • Probleme, Augenkontakt zu halten

All diese Symptome können natürlich auch auf andere Ursachen zurückgehen, dennoch sollte erwogen werden, dass ein frühes Trauma stattgefunden haben kann.

In meiner therapeutischen Arbeit mit den inneren Anteilen (IFS-therapie), die dadurch entstanden sind, spielt die Arbeit mit dem Körper und mit Berührung eine wichtige Rolle, natürlich immer nur mit dem Einverständnis der Betroffenen. Der Grund ist, dass Berührung einem dieser früh entstandenen Anteile mehr Halt geben kann als Worte und neue, positive Erfahrungen ermöglicht.

Mehrgenerationale Traumata

Kinder reaktivieren durch ihr Verhalten oft alte Traumata der Eltern. Die Eltern geraten durch ihre traumatisierten Anteile “außer sich” - hinein in Wut, Scham und Angst und reagieren diese Gefühle an den Kindern ab. So werden die Kinder zu Opfern elterlicher Gewalt, und entwickeln Bindungstraumata. Diese werden, wenn nicht daran gearbeitet wird, wieder an die nächste Generation weiter gegeben. (Brisch / Hellbrügge, 2007, 288f)

BR2: Der lange Schatten - Wie Traumata der Eltern das Leben ihrer Kinder überschatten - radioReportage in der ARD-audiothek

Laurence Heller, Aline LaPierre, Entwicklungstrauma heilen. Alte Überlebensstrategien lösen - Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken - Das Neuroaffektive Beziehungsmodell zur Traumaheilung NARM - therapeutisch ein anderer Ansatz, erklärt jedoch Entstehung und Symptome aufgrund der Polyvagaltheorie von Steven Porges

https://www.depression-erding.de/2018/11/25/bindungs-traumatisierung-gespraechsabend-mitte-november/

Psychoanalytische Sicht von Dr. Ammon (PDF)